„Was Hänschen nicht lernt,
lernt Hans nicht mehr.“


Die Entwicklung des Sehens

Das Sehen entwickelt sich in den ersten Lebensjahren eines Kindes. Neugeborene kommen mit einer sehr schlechten Sehschärfe zur Welt – sie sehen nur unscharf und können keinerlei Details ausmachen. In den ersten beiden Lebensmonaten findet dann ein regelrechter „Sprung“ in der Sehentwicklung statt – die Sehschärfe potenziert sich um das ca. 10-fache und steigt im Laufe der Jahre weiterhin an. Im jugendlichen Alter von 16-20 Jahren hat der Mensch – laut Studien – sein Sehschärfemaximum erreicht.

Ab der 8. Lebenswoche kann das gezielte Fixieren erwartet werden, räumliches Sehen entwickelt sich zwischen dem 3. und 5. Lebensmonat. Ebenfalls ab dem 3. Lebensmonat kann ein Kind Strukturen und Details erkennen, sodass es ein Lächeln der Mutter erwidern kann.

Im Kindesalter ist eine Weitsichtigkeit – sofern sie eine gewisse Dioptrienzahl nicht übersteigt – normal. Die Achslänge des Auges ist für die Brechkraft seiner optischen Medien zu kurz – mit der Allgemeinentwicklung des Kindes wächst auch das Auge und Weitsichtigkeiten reduzieren sich.

Die Entwicklung des Sehens kann durch verschiedene Faktoren gestört werden:

  1. Trübung der optischen Medien
    Liegt eine angeborene oder früh erworbene Trübung der optischen Medien (Hornhaut, Linse, Glaskörper), kann sich das Sehen nicht normal entwickeln.

  2. Erkrankungen des Augenhintergrundes
    Ist die Netzhaut nicht in der Lage, optische Reize aufzunehmen und weiterzuleiten, kann das Sehen nicht erlernt werden.

  3. Brechungsfehler des Auges
    Unerkannte Fehlsichtigkeiten, im Sinne einer zu starken, zu schwachen oder unregelmäßigen Brechung des Auges führen zu einer unscharfen Abbildung auf der Netzhaut.

  4. Schielen
    Mit einem Schielen, in der Fachsprache „Strabismus“, wird ein Stellungsfehler der Augen bezeichnet. Bei normaler Augenstellung sind beide Augenachsen parallel – beim Schielen weicht eine Achse, in einigen Fällen auch beide Achsen, ab. Das schielende Auge wird zum „benachteiligten“ Auge, das sich nicht altersentsprechend entwickeln kann.

» Jegliche Störungen der Sehentwicklung im Kindesalter können zu erheblichen Sehschwächen führen. Werden diese nicht frühzeitig erkannt und adäquat behandelt, bestehen sie ein Leben lang.


Schielen: Ursache, Formen und Gefahren

Die Ursache des Schielens ist bis heute noch nicht vollständig geklärt. Man weiß bisher nur, dass in jedem Fall genetische Faktoren eine Rolle spielen. Die Schielform an sich wird nicht vererbt, vielmehr wird die Anlage zum schielen vererbt. So hat man in Studien vermehrt schielende Kinder gefunden, bei denen auch die Eltern ein Schielen, eine höhere Fehlsichtigkeit oder instabiles beidäugiges Sehen hatten. Deshalb wird bei der Erhebung der Krankengeschichte - Anamnese – zu Beginn der Untersuchung in der Praxis immer auch eine Familienanamnese erhoben.

Ein Schielen kann bereits kurz nach der Geburt eines Kindes auffällig werden, oder sich erst im Laufe der ersten Lebensjahre entwickeln. In solchen Fällen spricht man vom sogenannten „Begleitschielen“ – der Schielwinkel ist in allen Blickrichtungen der selbe. Es gibt aber auch ein Schielen, das erst im Erwachsenenalter auftritt, und dann von Doppelbildern begleitet wird. Dieses kann durch eine Augenmuskellähmung – „Lähmungsschielen“, oder eines vorher bestandenen versteckten Schielens entstehen. Gerade auch diese Schielformen bedürfen einer fachmännischen Abklärung, um eventuelle neurologische Störungen auszuschließen.

Wie bereits vorbeschrieben, kommt es beim Schielen zu einem Stellungsfehler der Augen, sodass jedes Auge einen unterschiedlichen Seheindruck erhält. Das Gehhirn ist nicht in der Lage, die unterschiedlichen Bilder zu einem räumlichen Seheindruck zu verschmelzen, vielmehr werden Doppelbilder wahrgenommen. Tritt dieses Doppeltsehen im Kindesalter auf, weiß sich das kindliche Gehirn zu helfen und unterdrückt den Seheindruck des schielenden Auges. Das schielende Auge nimmt nicht mehr aktiv am Sehvorgang teil und kann sich nicht weiterentwickeln, obwohl es organisch völlig gesund ist. Es entsteht eine Schwachsichtigkeit, eine sogenannte Amblyopie.
Diese Schwachsichtigkeit kann – sofern sie nicht frühzeitig entdeckt wird – schwere Folgen haben. Die schlechte Sehschärfe bleibt dann ein Leben lang bestehen und kann auch im Erwachsenenalter durch eine adäquate Brille oder eine Laserbehandlung nicht verbessert werden. Es können Beeinträchtigungen im Alltag, vor allem im Straßenverkehr, beim Erwerb des Führerscheines oder in der Berufwahl entstehen.

» Wenn das Sehen im kindlichen Alter nicht erlernt wird, kann es später nicht mehr nachgeholt werden.


Schielen: Ursache, Formen und Gefahren

  1. Brillenverordnung
    Falls eine Fehlsichtigkeit vorliegt, sollte diese mit einer Brille korrigiert werden. Die Brillenverordnung kann bereits sehr früh erfolgen, da in der Augenarztpraxis objektive Messungen gemacht werden können, die keine Mitarbeit der Kinder erfordert. Falls Babys einen ausgleichsbedürftigen Sehfehler haben, stehen in Optiker – Fachgeschäften flexible Babybrillen zur Verfügung.

  2. Zuklebebehandlung – Okklusionsbehandlung
    Bei einer frühzeitig entdeckten Sehschwäche wird eine Okklusionsbehandlung notwendig. Diese kann – sofern die Sehschwäche frühzeitig entdeckt wird – eine vollständige Heilung erzielen, sodass beide Augen eine seitengleiche, altersentsprechende Sehschärfe haben. Um das sehschwache Auge zu trainieren, muss das gut sehende Auge zugeklebt werden. Hierfür gibt es diverse Augenpflaster in verschiedenen Größen und kindgerechten Motiven.
    Diese Zuklebebehandlung wird je nach Ausmaß der Schwachsichtigkeit individuell angepasst. Nicht immer ist es notwendig, das gut sehende Auge den ganzen Tag zuzukleben, vielmehr reicht oftmals ein stundenweises Zuklebeintervall. In welchen Rhythmus und über welchen Zeitraum die Behandlung nötig ist, entscheidet ihr Augenarzt/ihre Orthoptistin.

  3. Augenmuskeloperation
    Ist eine beidäugige Zusammenarbeit der Augen nicht möglich, sollte bei sehr auffälligem Schielwinkel die Fehlstellung durch eine Operation behoben werden. Vorzugsweise wird vor der Einschulung operiert, um das Kind vor „Hänseleien“ anderer zu schützen. Die Operation ist ein Wahleingriff und kann in jedem Lebensalter erfolgen. Sie ist verhältnismäßig risikoarm und hat stets sehr gute Erfolgsaussichten. Über den genauen Ablauf und die Technik kann sie ihr Augenarzt/ihre Orthoptistin genau informieren.

Neben diesen Behandlungsmöglichkeiten besteht bei Erwachsenen mit Doppelbildern die Möglichkeit, mittels Prismen das Schielen auszugleichen.


Wirkungsstätte „Sehschule“

In der sogenannten „Sehschule“ ist die Orthoptistin tätig, die sich auf ein Teilgebiet der Augenheilkunde spezialisiert hat. Die erste Sehschule entstand 1928 in London. Das schielende Auge sollte trainiert werden, um eine optimale Sehschärfe zu erreichen. Deshalb bezeichnete man den Arbeitsplatz der Orthoptistin als „Sehschule“, dort wo das gute Sehen erlernt wird. Heute nimmt die therapeutische Aufgabe einen eher geringen Teil der Arbeit ein. Die Aufgaben der Orthoptistin sind mit den Jahren vielfältiger und fächerübergreifender geworden. Neben der klassischen Aufgaben wie Prävention, Diagnostik und Therapie von Schielerkrankungen, Sehschwächen, Augenzittern und Augenbewegungsstörungen, werden Orthoptistinnen auch in der Rehabilitation von sehbehinderten Patienten aller Altersklassen eingesetzt. Ebenso diagnostizieren und betreuen sie Patienten mit neurologischen Hirnschädigungen, z.B. nach Schädelhirntraumen oder Schlaganfall. Deshalb sind Orthoptistinnen nicht nur in Augenkliniken und niedergelassenen Praxen, sondern auch in neurologischen Kliniken, Rehabilitationszentren und Einrichtungen für Sehbehinderte und Blinde tätig.


Was wird in der Sehschule untersucht?

Zu den Untersuchungen gehören:

  1. Sehschärfenprüfung mit altersentsprechenden Sehzeichen
  2. Objektive und subjektive Bestimmung von Fehlsichtigkeiten
  3. Bestimmung der Augenstellung
  4. Messung des Schielwinkels
  5. Analyse der beidäugigen Zusammenarbeit
  6. Prüfung der Augenbeweglichkeit
  7. Prüfung der Blickmotorik, das heißt, die Fähigkeit des Auges, bestimmte Augenbewegungsmuster auszuführen

Die Orthoptistin entscheidet individuell, je nach Fragestellung / Beschwerdebild des Patienten, welche Untersuchungen erforderlich sind.


Wann sollte die Orthoptistin aufgesucht werden?

Folgende Symptome sollten unbedingt abgeklärt werden:

  1. Sehschärfenprüfung mit altersentsprechenden Sehzeichen
  2. Zeitweiliges oder konstantes Schielen
  3. Der sogenannte „Silberblick“
  4. Doppelbilder
  5. Vorbeigreifen an Gegenständen, unsicheres Laufen, Ungeschicklichkeiten, wie Stolpern oder Anstoßen
  6. Augenzittern
  7. Schiefhalten des Kopfes
  8. Unlust am Lesen
  9. Konzentrationsprobleme
  10. Kopfschmerzen
  11. Verschwommensehen

Präventiv sollten auch Kinder im Säuglingsalter und Kleinkindalter untersucht werden, um ein kleines, dem Laien nicht erkennbares, Schielen auszuschließen. Für die Kleinsten stehen der Orthoptistin spezielle Untersuchungsmethoden zur Verfügung, bei dem keine Mitarbeit der Kinder erforderlich ist. Aber auch Jugendliche und Erwachsene sind Patienten für die Orthoptistin, obwohl diese das Sehen ja nicht mehr erlernen müssen ;-). Denn die wachsenden Anforderungen an das Sehen bereiten immer häufiger Sehstörungen und Probleme, die zunächst gar nicht den Augen zugeordnet werden.

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